Autor: James Morrow
Erscheinungsjahr: 1990
Ausgabe: Heyne Science-Fiction & Fantasy 1993
Zusammenfassung: Jack Sperry ist Kunstkritiker in einer Stadt, in der jegliche Lüge ausgebrannt wird. Im Alter von zehn wird jedes Kind einer Gehirnwäsche unterzogen, die es ihm fortan unmöglich macht, die Unwahrheit zu sprechen. Dennoch stellt er das grausame System erst in Frage, als nur noch eine Lüge seinen Sohn retten kann.
Kommentar: Die Stadt der Wahrheit ist mit Sicherheit einer meiner überraschendsten Bücherschrankfunde. Insbesondere, da ich ohne das kleine “SF” auf dem Buchxrücken nicht damit gerechnet htte, dass sich hinter dem expressionistisch anmutenden Titelbild von Jörg Remé ein Science-Fiction-Roman und kein Familiendrama verbirgt. Wobei die dystopische Gesellschaftsgeschichte auch Familiendrama enthält.
Was ich an diesem Buch mag, ist, dass es anders als andere Dystopien nicht zeigt, wie jemand aus den Reihen des Systems zum Rebellen wird und das System zerbricht. Nein, Jack Sperry stellt das System nicht in Frage, bis sein Sohn mit einer tödlichen Krankheit infiziert ist und er sich an etwas erinnert, dem er während seines Jobs als Kunstkritiker begegnet ist: Psychoimmunologie, der Kraft, mit positiven Denken eine eigentlich tödliche Krankheit zu besiegen. Das hat nur einen Haken: Um diese anwenden zu können, muss er lügen können, etwas, zu dem er seit seinem zehnten Lebensjahr nicht mehr fähig ist.
Zum Glück ist er sich sicher, dass eine Zufallsbekanntschaft zu den Schwindlern genannten Rebellen gehört und ihm lügen beibringen kann. Doch er wird nicht zum großen Verfechter der Gegenbewegung, er verfolgt sein Ziel, wendet es an und sich von den Schwindlern ab als ihm plötzlich bewusst wird, dass manchmal auch die Wahrheit gesagt werden muss.
Der Roman hat zwei große Stärken, die einen bitteren Spagat zwischen Tragik und Komik bilden. Die Tragik, die sich entfaltet, als klar wird, dass alle Positivität seinen Sohn nicht retten wird und dieser sich am Ende die Wahrheit wünscht: zu wissen, dass er sterben muss. Das ist so einfühlsam geschrieben und dreht sich ganz klar um die Frage wieviel Wahrheit Sterbenskranke brauchen. Und natürlich hofft man bis zuletzt für den kranken Sohn.
Komik entfaltet der Roman durch seine Hinweise auf unsere Zeit, das Zeitalter der Lügen. Und wenn man sich die verwendeten Markennamen, Fernsehprogramme und Aussagen ansieht, wird dem Leser bewusst, wie sehr wir von Lügen umgeben sind und wie sehr sie einerseits bereichern und andererseits verfälschen.
“Zu erlangen und zu bewahren, zu lieben und zu ehren, in einem Maße, daß diese albernen und sentimentalen Abstraktionen mit einem Inhalt erfüllt werden. Helen und ich hatten uns für die traditionelle Eheschließungs-Zeremonie entschieden.”
Liebe und Tränen gibt es nicht, Werbung sagt nur die Wahrheit und Weihnachtsmänner, Einhörner und fliegende Schweine wurden genauso aus der Kultur verbannt wie Citizen Kane und Vom Winde verweht. Dafür gibt es schonungslose, zerschlagende Ehrlichkeit. Eine Bar namens Suff am Morgen, die Fernsehshow Ertragen wir einen weiteren Tag, ein Selbsthilfebuch mit dem Titel Wie Sex ein bisschen mehr Spaß machen kann und Kosenamen wie Scheinbar-Herzchen verleihen der Stadt Veritas eine gewisse Tiefe und erlauben uns, eine Vorstellung zu entwickeln, wie farblos die Welt wäre, wenn jede Unwahrheit aus ihr verbannt würde.
Fazit: Kein episches Werk, sondern eine kleine, zu Tränen rührende Geschichte, an deren Ende nicht der Sieg über ein krankes System steht. Stattdessen die Einsicht, dass jeder seine eigene Wahrheit finden muss.
Techtalk: 1/5
Alienlevel: 0/5
Kitschniveau: 4/5
Zukunftsnähe: 1/5
Denkdichte: 4/5